Category Archives: Materialität

Sommer-Programm: Autopoiesis

Anknüpfend an die gerade laufende Diskussion zu “Technik als einem möglichen System der autopoetischen Artefakt-Produktion” möchte ich folgendes Sommer-Programm vorschlagen. Zu jedem Thema sind dabei ein oder mehrere Blogpost(s) möglich:

Leitfragen:
F1: Kann das AP-Konzept von M/V mit Blick auf die unten erwähnten Prüfkriterien direkt auf Technik (im obigen Sinne) angewandt werden?
F2: Kann das AP-Konzept grundlegend reformuliert werden, so daß es auf Technik anwendbar ist?
F3: Sollte das AP-Konzept fallen gelassen werden bspw. zugunsten von “Allopoiesis”? (siehe Thema 2)

Thema 1: Das Konzept der  “Autopoiesis” von Varela / Maturana   und seine mögliche Übertragbarkeit auf obiges Technik-System 

Autopoiesis-Bestimmung und -Beispiel [URL: http://koloss3.mykowi.net/index.php?option=com_content&view=article&id=246&Itemid=38]

“Das Konzept der Autopoiesis bezeichnet nach der Intention von Maturana und Varela Selbstschaffung bzw. Selbstproduktion und bezieht sich auf eine allgemeine biologische Beschreibung von Leben. Maturana und Varela subsumieren unter Autopoiesis das Organisationsprinzip alles Lebendigen und vertreten die Ansicht, dass alles Leben dahingehend autopoietisch organisiert und strukturiert ist, dass es sich als geschlossenes Netzwerk von Elementen in rekursiver Bezüglichkeit selbst hervorbringt, selbst reproduziert und selbst organisiert. Grundlegend ist demnach jedes autopoietische System ein geschlossenes, autonomes System innerhalb einer spezifischen Umwelt, mit der es keine Austauschbeziehung eingeht, sondern vielmehr im Modus der Perturbation und strukturellen Kopplung steht. Jedes autopoietische System, also auch die Zelle, ist energetisch und materiell offen und gleichzeitig operationell, organisationell und informationell geschlossen.
Die Teilung und Selbststrukturierung der Zelle vollzieht sich wie folgt:
Die eigentliche Zellteilung wird durch die Mitose (Kernteilung) eingeleitet. Hierbei ziehen sich die im Zellkern befindlichen Chromosomen, die die DNS tragen, zunächst stark zusammen, was sie unter einem guten Lichtmikroskop sichtbar macht. Jedes Chromosom besteht aus zwei Chromatiden, die am sogenannten Centromer verbunden sind. Nun wandern die Centriolen, aus Mikrotubuli gebildete Zellteilchen, an entgegen gesetzte Enden der Zelle und bauen den ‘Spindelapparat’ auf. In dessen Äquatorialplatte ordnen sich die Chromosomen an, senkrecht zu den Centriolen. Die Kernhülle ist nunmehr verschwunden. An den Centromeren setzen jetzt die Spindelfasern des Spindelapparates an und ziehen die Chromatiden eines Chromosoms zu den entgegen gesetzten Centriolen. So sind an beiden Enden der noch einen Zelle zwei identische Chromosomensätze angelangt. Neue Kernhüllen bilden sich, der Spindelapparat wird aufgelöst, und eine neue Zellwand wird gebildet, die die nun kompletten Zellkerne trennt und so aus der einen Mutterzelle zwei Tochterzellen macht, die zur gleichen Größe der Urzelle heranwachsen.”

Zu prüfende Kriterien für Autopoiesis nach M/V [aus dem Wikipedia-Artikel “Autopoiesis”, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Autopoiesis]:
“Um ein autopoietisches System zu sein, muss eine Einheit die folgenden Merkmale erfüllen:

  • Sie hat erkennbare Grenzen.
  • Sie hat konstitutive Elemente und besteht aus Komponenten.
  • Sie ist ein mechanistisches System: Die Relationen zwischen den Komponenten bestimmen die Eigenschaften des Gesamtsystems.
  • Die Komponenten, die die Grenze der Einheit darstellen, tun dies als Folge der Relationen und Interaktionen zwischen ihnen.
  • Die Komponenten, die die Grenze der Einheit darstellen, werden produziert von Komponenten der Einheit selbst oder entstehen durch Transformation von Elementen, die keine Komponenten sind, durch Komponenten.
  • Alle übrigen Komponenten der Einheit werden ebenfalls so produziert oder sind anderweitig entstandene Elemente, die jedoch für die Produktion von Komponenten notwendig sind.

Maturana und Varela wollten mit diesem letzten Punkt die Tatsache betonen, dass Organismen zwar Substanzen aus der Umwelt in sich aufnehmen, diese dabei jedoch sofort in verwertbare Baustoffe umwandeln. Substanzen dagegen, die für die Selbstreproduktion des Organismus keine Bedeutung haben, werden vom Organismus sozusagen ignoriert.”

In diesem Kontext wäre auch Originalliteratur von M /V  zu prüfen.

Thema 2: Technische Produktion als Allopoiesis? 

Eine Allopoiesis-Definition aus Principia Cybernetica Web, URL: http://pespmc1.vub.ac.be/ASC/ALLOPOIESIS.html
“the process whereby an organization produces something other than the organization itself. An assembly line is an example of an allopoietic system. See autopoiesis. (Francisco Varela)

The process of producing material entities other than those required for producing them. Most industrial production processes are allopoietic: An assembly line may produce cars but not the machines used in this form of production. Even reproduction in biology is allopoietic because the offsprings are materially distinct from the parent organism and occupy different spaces. Reproduction is not self-production. The primary value of the concept of allopoiesis is that it contrasts with autopoiesis.”

Thema 3: Ist das “Technium” von Kevin Kelly ein Fall von Autopoiesis?
URL: http://www.kk.org/thetechnium/

Thema 4: Kann die Autopoiesis von Technik u.U. mit der Maschinenkonzeption von Félix Guattari (re-)formuliert werden?

Thema 5: Sollte die Produktion technischer Artefakte (auto- / allopoietisch) gekoppelt werden mit “technischer Kommunikation” (inkl. dem Prozessieren zugehöriger Formen wie Konstruktionsanweisungen / -zeichnungen, Bauplänen, Modellen, etc.)? [Hier wäre dann auch eine Verbindung herstellbar zu Technik als einem “Funktionssystem” (im Bielefelder Sinne)]

Fallbeispiel: Die Erstellung einer modellgetriebenen Service Component Architecture-(Mini-)Anwendung (von requirements-Dokumenten über BPMN-Modelle hin zu exekutierbarem Code)

Thema 6: Welche Artefakte gehören zu Technik? Das Beispiel “Architektur”

Thema 7: Technik-Autopoiesis, selbstreplizierende Maschinen und artificial life

Schlußbetrachtung im Hinblick auf die drei Leitfragen

Die »SAPisierung« bei der ABB

Gestern habe ich auf Google Plus eine Frage von Martin Lindner wie folgt kommentiert:

Ich habe während des Studiums bei der ABB gearbeitet, die Turbolader herstellt. Zu dieser Zeit wurde SAP eingeführt. Sämtliche Arbeitsabläufe wurden von der Software erfasst, gleichzeitig gab es sowas, was sich Business Process Reengineering genannt hat, also das Modellieren aller Arbeitsabläufe, die ausgeführt werden, so dass im Prinzip das ganze Unternehmen wie ein Algorithmus oder ein Computerprogramm zu verstehen wäre, bei dem einzelne von Menschen ausgeführte Arbeitsschritte beliebig ersetzbar wären. Ohne das kritisch zu betrachten, scheint es mir heute, also ob die ganze Organisation durch die konsequente Einführung des Computers verändert worden wäre. Letztlich ist dann auch nur noch dokumentieres Wissen kommunizierbares und verwendbares Wissen, das Unternehmen legt fest, dass Wissen, um Wissen sein zu können, digitalisiert werden muss.

Die ursprüngliche Frage war, welche Veränderungen an Institutionen oder Konzepten aufgrund der Digitalisierung entstehen, selbst wenn diese nicht von der Digitalisierung direkt betroffen sind.

Meine Idee war erstens, dass man zurückblicken müsse, um aufgrund der etwas größeren Distanz eine Veränderung klarer beurteilen zu können (auf welchen Ebenen spielt sie sich ab, wie sind ihre mittelfristigen Folgen etc.) Mit der archäologischen oder genealogischen Methode Foucaults wäre es dann möglich, »die Gegenwart zu diagnostizieren […] zu sagen, was wir heute sind und was es jetzt bedeutet, das zu sagen, was wir sagen« (Gespräch mit Paolo Caruso).

Zudem ist mir bei der ABB aufgefallen, dass ich den ganzen Tag am Computer sass und alle anderen Mitarbeitenden auch den ganzen Tag am Computer sassen – das Geld, das damit verdient wurde, aber für Turbinen oder Turbolader oder irgendwas Technisches bezahlt wurde, das niemand je in die Hand zu nehmen schien. Die ganze Arbeitskultur hatte nichts Industrielles, sondern etwas rein Virtuelles, wir formatierten Word-Dokumente, füllten Excel-Sheets etc.

Nach mir haben andere Leute zum SAP-Beispiel aufschlussreiche Bemerkungen gemacht, die ich kurz zusammenfassen möchte:

  • Der Einsatz der SAP-Software führte dazu, dass Unternehmen strukturell gleich werden (sie passen sich an SAP an). Es werden Synergien und Ähnlichkeiten hergestellt, welche die Variabilität von Unternehmen stark einschränken.
  • Die Frage ist, ob es sich um einen Effekt der Digitalisierung oder der Standardisierung handelt. Also: War zuerst der Computer, der eine Standardisierung bedingt hat, um effizient eingesetzt zu werden – oder war zuerst das Bedürfnis nach Standardisierung von Arbeitsprozessen, die der Computer erleichtert hat?

Ich lasse diese Fragen und diese Gedanken mal so im Raum stehen – und hoffe, dass es Reaktionen darauf gibt.

Borg[(e)n] / Pattern recognition / Zeichen / Medien-Welt-Dualismus

Insofern wir uns in der letzten Zeit  immer wieder an der Relation von Materialität und Zeichen sowie dem Dualismus von Medium und Welt gerieben haben, soll nachfolgend einmal versucht werden, diese Themen etwas tiefer zu legen. In drei Blogposts sollen daher die folgenden Fragen behandelt werden:
Frage 1: Pattern recognition – Wie erkennen wir “Muster”? Essentialistische und nicht-essentialistische Kategorisierungsstrategien.
Frage 2: Ist “Signifikantenmaterialismus” beim Prozessieren von Zeichen möglich?
Frage 3: Wie ist der “Dualismus von Medium und Welt” zu beschreiben und welche Möglichkeiten der Aushebelung existieren? 

Frage 1: Pattern recognition – Wie erkennen wir “Muster”? Essentialistische und nicht-essentialistische Kategorisierungsstrategien.
(Menschliches) Wahrnehmen ist ein sehr komplexer Vorgang, wie schon ein oberflächlicher Scan des entsprechenden Wikipedia-Artikels zeigt (http://de.wikipedia.org/wiki/Wahrnehmung).  Fuchs (2005) hat dabei Wahrnehmen (aus Sicht der soziologischen Systemtheorie) u.a. charakterisiert als:

  • Externalisierungsleistung eines neuronalen Systems, dessen Funktionsweise im Prozeß des Wahrnehmens selbst ausgeblendet wird.
  • Strikte Präsenzorientierung, also: keine Möglichkeit, zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in der Wahrnehmung zu differenzieren.
  • Kompaktheit der Wahrnehmung.
  • Keine Negationsfähigkeit (es gibt keine perzeptuelle Möglichkeit, das Wahrnehmen während des Wahrnehmens zu verneinen).
  • Simultaneität der Wahrnehmung.

Wahrnehmungs- und kognitionspsychologisch könnten weitere Merkmale für Wahrnehmen wie Kontext- und Erfahrungsabhängigkeit, Filtereffekte, etc. angeführt werden. Aber auf weitere Details sei an dieser Stelle verzichtet, siehe jedoch http://de.wikipedia.org/wiki/Wahrnehmung für eine Groborientierung.
Aus Sicht der Fuchs`schen Spielart der soziologischen Systemtheorie schreibt sich dann Bewußtsein kommunikationsinduziert in die Wahrnehmungsverarbeitung der Psyche ein, so daß im Rahmen eines sog. “différance-basierten Nachtragsmanagements” eine Verarbeitung von Unterscheidungen (2-Seiten-Formen, Zeichen, marks) möglich wird.
Oder anders formuliert: Bewußtsein bedient die Funktion eines differentiellen Interfaces, das emergiert als Folge der “Stimulation” der psychischen Wahrnehmungsverarbeitung durch soziale Kommunikationsversuche.  In der Folge ist es Bewußtseinsprozessoren möglich, diverse Zeithorizonte zu unterscheiden sowie semiotisch über Generalisierungs-, Spezialisierungs- und Negationsmöglichkeiten zu verfügen. Zugleich wird die (analoge) Simultaneität der Wahrnehmung überführt in eine (digitale) Sequentialität des Unterscheidungsgebrauchs (der Semiose), so daß es zu einer  “Informationsraffung” (Reduzierung der wahrnehmungsmäßigen Komplexität durch semiotische Abstraktion) kommt.
Peter Fuchs bezieht sich dabei i.a. auf (orale, skripturale, etc.) Sprachzeichen. Aber das scheint mir eine unnötige Verengung zu sein, so daß ich die Bewußtseinsfunktion generell mit der Fähigkeit zur Semiose (Konstitution und Verarbeitung aller möglichen Zeichen) gleichsetzen würde, obgleich Sprachzeichen hierbei eine große (vielleicht die wichtigste) Bedeutung zukommt.
Vor diesem Hintergrund sei nun folgende Frage formuliert, die sich auf das Problem der Kategorisierung bezieht: Wie ist es möglich, daß ein System psychischer Wahrnehmungsverarbeitung angesichts einer Unzahl visueller Variationsmöglichkeiten (A  A A A A A A A A A etc.) immer einen Buchstaben wie z.B. “A” wahrnehmen  bzw. erkennen kann?
Essentialistische Ansätze (Schablonentheorie, ein Platonismus der von topologischen oder gruppentheoretischen Invarianten ausgeht, usf.) folgen dabei der Logik, daß Muster (z.B. als Schemata, Typen, Kategorien, Klassen, etc., die u.U. angeboren seien) nur verschieden aktualisiert werden. Das heißt in diesem Fall: eine Ur-Gestalt / Invariante / ein Wesen von “A” würde in Form von verschiedenen Variationen stets (re-)aktualisiert.
Wenn diese variierende Repetition des Selben möglich wäre, dann könnten alle vorstellbaren Buchstabenformen durch eine begrenzte Zahl von veränderlichen Parametern auch durch Computer simuliert werden. Als Beispiel für eine solche essentialistische Kategorisierungsweise siehe Donald E. Knuths  “Meta-Schrift-Konzeption” und die zugehörige Kritik von Hofstadter (1988).
Zentrale Probleme dieser essentialistischen Logik sind freilich:

  • Wie sollen alle möglichen Muster und ihre Variationen im (menschlichen) Gedächtnis gespeichert werden, ohne schnell an Kapazitätsgrenzen zu stoßen?
  • Wie soll ein starres und festes System von Regeln angegeben werden, um Kategorien (bspw. von “A”) in allen möglichen offenen Kontexten und in allen möglichen Variationen zu definieren?
  • Wie soll eine nicht-differentielle Identität von Kategorien angegeben werden können?  Aus differentieller Sicht liegt eher die These nahe, daß sich die Identität von  A (negativ) im Unterschied zu anderen Buchstaben des Alphabets (B, C, D, etc.) im Rahmen des jeweiligen Fonts ergibt.
  • Verweist die essentialistische Variations- und Aktualisierungslogik nicht auf einen Possibilismus, der Unendlichkeit zu determinieren beansprucht, was letztlich einem nicht vorstellbaren, weil endgültig geschlossenen (Meta-)Kontext entspräche? 

Wie sehen demgegenüber nicht-essentialistische Lösungen des Kategorisierungsproblems aus?
Beispiel 1: Mit Blick auf Wittgenstein II kann das Konzept der Familienähnlichkeit herangezogen werden. Das heißt, daß nicht mehr von variierenden Aktualisierungen einer Ur-Kategorie “A” auszugehen ist, sondern Vergleichsoperationen bei der Buchstabenerrechnung zum Einsatz kommen: Variationen – ohne Annahme irgendeiner Ur-Kategorie – werden untereinander als ähnlich in dieser oder jener Beziehung verglichen, wobei sich die Kriterien für Ähnlichkeit je nach Kontext und in der Zeit verändern können. [Hier könnte hinzugefügt werden, daß sich die Buchstaben-Identität zugleich negativ-differentiell ergibt durch Nicht-Ähnlichkeit mit anderen Buchstabenarten].

Beispiel 2: Mit Derrida kann auf das Konzept der itérabilité verwiesen werden, so daß sich erst durch die alterierende Wiederholung in je offenen (i.e. ungesättigten) Kontexten eine ideelle Identität (als post-festum-Idealisierung) ergibt. Oder anders gesagt: jede Wiederholung in stets veränderten Kontexten beinhaltet ein (minimales) Anderswerden des Wiederholten. Das sprengt eine essentialistische Logik der variierenden Aktualisierung des Selben, die letztlich auf kontrollierter Repetition in geschlossenen Kontexten beruht.

Referenzen:

  • Fuchs, Peter (2005), Die Form des Körpers, in: Schroer, M. (Hrsg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M. 2005, S.48-72 [online verfügbar unter: http://www.fen.ch/texte/gast_fuchs_koerper.htm].
  • Hofstadter, D.R. (1988), Metaschrift. Metamathematik und Metaphysik: Bemerkungen zu Donald Knuths Artikel “The Concept of a Meta-Font“, in: ders. (1988), Metamagicum, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 267ff.
  • Für einen Vergleich von essentialistischen und nicht-essentialistischen Ansätzen zu Sprache / Zeichen / Kategorien, siehe die Beiträge in Krämer, S. (2001), Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt / M.: Suhrkamp.

Historische Fußnote / Text als materielles Artefakt

Rolf hat einen Beitrag zu der Frage gepostet, ob Texte materielle Artefakte sind- im Prinzip also zu der Frage, ob Texte eine Materialität haben. Einiges daran erinnert mich an eine Diskussion, mit der ich mich kürzlich beschäftigt habe: Die Frage nach dem Wesen der Sprache (die man wohl braucht, bevor es überhaupt einen Text geben kann) im 19. Jahrhundert. Um der Debatte  eine kleine historische Fußnote zu verpassen, möchte ich hier einen Ausschnitt aus meiner Dissertation posten, der sich genau damit beschäftigt.

In dem entsprechenden Kapitel geht es um den Sprachwissenschaftler August Schleicher, der 1863 versuchte zu zeigen, daß Sprachen materielle Lebewesen seien, die sich genau nach den Gesetzen entwickelten, die Darwin in On the Origin of Species aufgestellt hatte. Schleicher vertrat dabei eine materialistische Position, die später heftig kritisiert werden sollte. Interessant ist daran vor allem zu beobachten, wie schwer es ihm letztlich fällt, seinen Materialismus durchzuhalten. Hier also ein Ausschnitt meiner Ergebnisse dazu – die Fußnoten habe ich beibehalten, da finden sich dann auch Literaturhinweise, falls jemand besonders interessiert ist. Los geht’s:

“Es scheint, als habe Schleicher an der materialistischen Physiologie nicht zuletzt gereizt, dass sich daraus ein hohes Maß an Anschaulichkeit generieren ließ, welche die Sprachwissenschaft nicht bereit stellen konnte. Von Karl Friedrich Burdach übernahm Schleicher den Begriff der Morphologie und führte ihn als erster in die Linguistik ein,[1] wobei er ihn jedoch nicht metaphorisch verwendete, sondern durch seine Verwendung des Begriffs die später ausformulierte Annahme fundierte, daß Sprachen wie Organismen zu behandeln seien. Daraus leitete er auch eine Unterteilung seines eigenen Faches in „Glottik“ (womit das Fach gemeint ist, das heutzutage als Linguistik bezeichnet wird – eine Bezeichnung, die sich nicht durchsetzen konnte) und „Philologie“ ab.[2]

Diese Unterscheidung verschiedener Disziplinen und Gegenstandsbereiche innerhalb der Sprachwissenschaft war für Schleicher selbst jedoch nur ein Notbehelf, der so lange aufrechterhalten werden sollte, bis sich eine leistungsstärkere „Philosophie“ herausgebildet hätte. Gemeint ist der Monismus, den Schleicher als Fluchtpunkt des „Denkens der Neuzeit“[3] einführt. Der Monismus kenne keine Unterschiede zwischen Materie und Geist mehr und passe endlich nicht mehr die Gegenstände der Forschung der Theorie an, sondern sei viel mehr gewillt, die Theorie an die beobachteten Phänomene anzunähern. […]

Zu den Einwänden,die gegen Schleicher erhoben wurden, gehört vor allem seine Beschreibung der Sprachen als „Naturorganismen“ (s.o.), die genau wie Tiere und Menschen einen „formell gleichen Ursprung“[5] in verschiedenen Ursprachen besäßen und ebenso wie diese einer „Specificierung“[6] und damit Geschichtlichkeit ausgesetzt seien. Allein das Vokabular zur Beschreibung der Sprachen unterscheide sich von dem des Botanikers oder dem des Physiologen, die Gesetze der „Specificierung“, der Ausdifferenzierung von Unterschieden, hingegen seien austauschbar und von Darwin beschrieben worden:

Diese Verschiedenheiten [der Sprachen eines Stammes, H.E.] greifen, in eine Reihe geordnet, unmerklich ineinander, und die Reihe weckt die Vorstellung von einem wirklichen Uebergang so brauchen wir nur die Benennungen Art, Unterart, Varietät mit den in der Sprachwissenschaft üblichen (Sprache, Dialekt, Mundart, Untermundart) zu vertauschen und das von Darwin Gesagte gilt vollkommen für die sprachlichen Unterschiede innerhalb der Sippen, deren allmähliches Entstehen wir so eben an einem Beispiele vor Augen geführt haben.[7]

Um sich gegen seine Kritiker zur Wehr zu setzen, legte Schleicher 1865 seine eingangs schon erwähnte Schrift Über die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen vor, in der er gleich zu Anfang einräumte, in der vorangegangenen Untersuchungen keine Begründungen für seine Annahme geliefert zu haben, dass es sich bei den Sprachen um materielle Entitäten handelte.[8] Bei seinem erneuten Versuch, dies zu zeigen, kam es dann jedoch zu einer exemplarischen Unschärfe, die sich nicht nur in dieser materialistischen Ausdeutung der Sprache findet, sondern auch in Beiträgen zum Materialismusstreit verbreitet ist.[9] Schleicher schreibt:

Die Sprache ist das durch das Ohr wahrnehmbare Symptom der Thätigkeit eines Complexes materieller Verhältnisse in der Bildung des Gehirns und der Sprachorgane mit ihren Nerven, Knochen, Muskeln u.s.f.* [Fußnote von Schleicher: *„Dieser Gedanke ist nicht neu. Lorenz Diefenbach, Vorschule der Völkerkunde, Frankfurt a.M. 1864, S.40 flg. Hat ihn bereits ausgesprochen.“] Allerdings ist die materielle Grundlage der Sprache und ihrer Verschiedenheiten noch nicht anatomisch nachgewiesen, meines Wissens ist aber auch eine comparative Untersuchung der Sprachorgane verschiedener Völker noch gar nicht unternommen worden.[10]

Die „materielle Grundlage der Sprache“ hätten wohl auch seine Gegner nicht bestritten, wohl aber, dass die Sprache selbst Materie sei.[11] Das behauptet auch Huxley nicht, auf den sich Schleicher später explizit, hier jedoch eher implizit bezieht. Huxley schreibt: „[…] the brain is chiefly, the organs of the senses and the motor apparatuses, especially those which are concerned in prehension and in the production of articulate speech.“[12] Über das Wesen der Sprache macht Huxley überhaupt keine Angaben, sein Interesse daran bezieht sich allein auf das Potential, sie als funktionale Differenz einzusetzen, wie es später auch Schleicher tun wird. Letzterer kann auch nicht auf der phänomenologischen Ebene[13] stehen bleiben, da sich bereits aus den dabei gefundenen Beschreibungen Folgen für die Praxis des Sprachwissenschaftlers ergeben.

An einer anderen Stelle spricht Schleicher von der Notwendigkeit der Experimentalisierung der Sprachwissenschaft, und schlägt damit implizit die Umwandlung in eine empirische Forschung vor. Die argumentative Verschiebung von einer idealistischen Sprachwissenschaft hin zu einer ontologisch interessierten, beobachtungsbasierten Wissenschaft ist ein entscheidender Schritt, den Schleicher durch eine neue sprachwissenschaftliche Praxis vollziehen wollte, und den er ohne seine Anschlüsse an Physiologie und Botanik nicht hätte umsetzen können. Die Annahme, dass Sprache wie Materie sei, scheint Schleicher her als heuristisch sinnvolle Arbeitshypothese einführen zu wollen. Der Linguist soll nach Schleicher

[…] mit der Sprache so verfahren, wie die Chemiker mit der Sonne, deren Licht sie untersuchen, da sie die Quelle dieses Lichtes nicht selbst in Untersuchung nehmen können. Was, um im Gleichnisse zu bleiben, bei der Sonne das Licht ist, das ist bei der Sprache der hörbare Laut; wie dort die Beschaffenheit des Lichtes von der materiellen Grundlage desselben zeugt, so hier die Beschaffenheit des Lautes. Die der Sprache zu Grunde liegenden materiellen Verhältnisse und die hörbare Wirkung dieser Verhältnisse verhalten sich zueinander wie Ursache und Wirkung, wie Wesen und Erscheinung überhaupt; der Philosoph würde sagen: sie sind identisch.[14]

Diese monistisch angehauchte Ausdeutung der Sprache bringt viele Probleme mit sich, von denen die Identifizierung von Ursache und Wirkung sowie von Wesen und Erscheinung vielleicht die gravierendsten sind. Schleicher bleibt bei den hier genannten Behauptungen, ohne sie weiter auszuführen, er verweist lediglich darauf, dass man Sprachen zwar nicht mit den „Händen greifen“[15] könne, aber dafür hören könne – sinnliche Wahrnehmung muss hier als Beleg für die „materielle“ Existenz reichen. [….]”

So weit der Ausschnitt.

Für Schleicher ist die Sprache vor allem auch deshalb als materiell aufzufassen, da er sie nur so (wie auch bestimmte körperliche Merkmale) als funktionale Differenz aufbauen kann. Dieser letzte Punkt ist es auch, der mich noch einmal zu dem Post zurückbringt, der mich dazu gebracht, diesen Beitrag hier einzubringen: Es stellt sich doch immer die Frage, was damit gewonnen ist, wenn man Text, Sprache oder was auch immer als materiell oder immateriell definiert hat, abgesehen davon, daß man unter Umständen eine Frage aus der Ontologie gelöst hat. Im Fall der Sprachwissenschaft eines August Schleichers, der (vermutlich zurecht) sehr viel Schelte bezogen hat, ist das die Diskussion umgebende Projekt ein anthropologisches (Sprachwird als funktionale Differenz etabliert), im Falle des Textes materielles Artefakt ein kybernetisches (so wie es hier diskutiert hat). Ich frage mich, ob man beides verbinden kann, vielleicht sogar verbinden muß. Wahrscheinlich führt es alles zu der Frage zurück, ob man die Maschine ohne den Menschen denken kann, als zu weit. Um die Fußnote also zu einem defensiven Abschluß zu bringen: es ist eben eine Fußnote.


[1] Schleicher, August (1859): Zur Morphologie der Sprache. St. Petersburg: Eggers.

[2] „Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen ‚Leben’ zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihr Methode ist im Ganzen und Allgemeinen dieselbe, wie die der übrigen Naturwissenschaften. [FN hier: Von der Philologie, einer historischen Disciplin, ist hier natürlich nicht die Rede.]“(Schleicher 1863, 7).

[3] Ebd., 8.

[5] Ebd., 23.

[6] Ebd., 12.

[7] Schleicher 1863, 20.

[8] Vgl. Schleicher 1865, 3.

[9] Dies zeigt sich besonders deutlich an der sogenannten Ignorabimus-Rede von Emil Du Bois-Reymond, die zwar grundsätzlich einem erkenntnistheoretischem Interesse folgt, indem sie sich der Frage stellt, was wir überhaupt vom Begriff der Materie wissen können, sich aber auch mit der Frage der materialistischen Begründung von geistigen Phänomen auseinandersetzt. Zusammenfassend stellt Du Bois-Reymond hierzu fest: „Ob wir die geistigen Vorgänge aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage, ganz verschieden von der, ob diese Vorgänge das Erzeugnis materieller Bedingungen sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne daß über diese etwas ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde.“ Du Bois-Reymond, Emil (1872): Über die Grenzen des Naturerkennens. Ein Vortrag in der zweiten öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872. Leipzig: Verlag von Veit & Comp. Hier S. 131. Während Emil Du Bois-Reymond dem Materialismus hier epistemisch zustimmt, indem Bewusstsein ist materiell bedingt, und auf diese Weise verstehbar auffasst, wendet er ontologisch gegen den Materialismus grundsätzlich ein, dass wir den Begriff der Materie nicht verstehen können, Bewusstsein also keine Materie ist. Trotz dieser differenzierten Darstellung sei jedoch angemerkt, dass auch bei Du Bois-Reymond, wie bei vielen seiner Zeitgenossen, die Begriffe Materialismus und Mechanismus nicht sauber getrennt werden.

[10] Ebd., 8.

[11] Robert Brain stellt in seinem Aufsatz Standards and Semiotics (1998. In: Lenoir, Timothy (Hg.): Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communication. Stanford: Stanford University Press, S. 249–284.) die Entwicklung der phonetisch orientierten Sprachwissenschaft anhand der Arbeiten von Michel Bréal dar, einem Gegner Schleichers. In dessen Umfeld arbeiteten unter anderem die Linguisten Marey und Havet, sowie der Gehörlosen-Experte Rosapelly mit Experimenten, für die sie Phonographen einsetzen. „This inscriptive apparatus, then, rendered  the hithero fleeting phenomena of speech into materialized scientific objects […].“ (Brain 1998, 261). Weiterhin berichtet Brain von der Französischen Gesellschaft für Anthropologie, die ab 1900 versuchte, ein Musée glossophonographique des langues, dialects, et patois einzurichten, in dem Sprachen der ganzen Welt dargestellt werden sollten. (Brain 1998, 277). Der Wunsch danach, die Sprache als eine materielles Objekt wissenschaftlich untersuchen zu können, bestimmte nicht nur den oft als Positivist verschrieenen Schleicher, sondern auch Sprachwissenschaftler, denen Schleicher Ansatz vorerst nicht überzeugend erschien.

[12] Huxley 1863, 102f.

[13] BLEEK

[14] Schleicher 1865, 10.

[15] Ebd.

[16] Ebd., 16.

[17] Ebd.

[18] Ebd., 17.


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